Fast geschafft

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So ein Umzug ist immer so eine Sache: einerseits macht er mich bange, andererseits finde ich ihn aber auch unfassbar aufregend.

Neu anfangen. Einen kahlen Raum zu sehen und ihn in Gedanken einzurichten: welches Möbelstück kommt an welche Stelle? Wo würde die Stehlampe besonders gut aussehen? Mit welchen Farben will ich diesmal arbeiten?

Wie ich letztes Wochenende wieder bemerkte ist es dabei unerheblich, ob ich selbst umziehe oder lediglich bei einem Umzug helfe: die Gedankengänge sind die gleichen.

Umziehen, ohne umzuziehen

Ein großer Teil des Umziehens – und das ist das, was es im Endeffekt ja auch so anstrengend und lästig und schwierig macht – besteht darin alles, was man besitzt, zumindest einmal in die Hand nehmen zu müssen. Dabei bietet sich das Ausmisten nahezu zwangsläufig an: soll dieses Stück mit in mein „neues Leben“ ziehen, oder lieber nicht (mehr)?

Im Grunde genommen bin ich also in den letzten Monaten umgezogen, ohne wirklich umzuziehen; denn ich habe jeden Schrank, jede Schublade, jede noch so kleine Kiste umgestülpt, aussortiert und auf Stand gebracht. Und damit meine Umwelt vermutlich ein Stück weit in den Wahnsinn getrieben.

Woher der schlechte Ruf der Ordnung?

Warum hat „Ordnung“ eigentlich einen derart schlechten Ruf? „Ich kann einfach keine Ordnung halten“ – „bei mir herrscht immer Chaos“ – „im Chaos fühle ich mich am wohlsten“ – Aussagen wie diese sind gesellschaftlich deutlich anerkannter als „ich sehe es hier gerne akkurat aufgeräumt“.

So kommt es vermutlich denn auch, eben diesem „Chaos“ mit dem Zusatz „kreativ“ einen zwanghaft positiven Touch zu verpassen, der mich als ordnungsliebenden Menschen – paradoxerweise – in die Schublade mit dem Etikett „unkreativ“ zu stecken scheint. Nur Langweiler räumen auf; das Farben-Äquivalent zu „Ordnung“ ist ganz bestimmt „beige“; und ich bin eine schlechte Mutter, weil ich statt $HAUSHALTSDINGE zu tun lieber Zeit mit meinen Kindern verbringen sollte.

Unlogisch 🤔

Die Nation seufzte kollektiv erleichtert auf, als Marie Kondo verkündete, nicht mehr aufzuräumen – die Gesamtheit der Kommentare, die ich diesbezüglich so gesehen habe, war schon ziemlich fies und ätzend. Interessanterweise ist Marie Kondo inklusive ihres „Does it spark joy?“ aber auch jedem ein Begriff – wie konnte ihre Sendung überhaupt zum Erfolg werden, wenn das Thema doch niemanden interessiert?

Man kann es verleugnen und verlachen – meiner Meinung nach hat die Frau grundsätzlich recht. Ich jedenfalls hatte definitiv zu viele Dinge aus den falschen Gründen. Und als „falsche Gründe“ habe ich für mich zum Beispiel folgende identifiziert:

  • weil ich es geerbt oder geschenkt bekommen habe (und es dem oder der Verstorbenen/ Schenkenden gegenüber als schrecklich empfinde, es weiterzugeben oder gar zu entsorgen)
  • weil es mal teuer war (auch wenn es jetzt ungenutzt Platz wegnimmt)
  • weil ich es vielleicht irgendwann mal für irgendwas gebrauchen könnte (die Wahrscheinlichkeit, dass ich es dann auch finden würde, geht indes streng monoton gegen Null)
  • weil es mich an eine Zeit erinnert, die vorbei ist und auch so nicht wiederkommen wird (Erinnerungsstücke sind super, doch wenn es ausufert, hat das nichts Gutes mehr)

Die Idee von Ordnung

Schaue ich mich bei IKEA um, so ist mein Eindruck, dass die nicht in erster Linie Möbel und Einrichtungsgegenstände verkaufen. Und nein, damit meine ich auch nicht, dass deren Geschäftsmodell auf der Veräußerung minderwertiger wächserner Beleuchtungskörper basiert…

Für mich verkauft IKEA vielmehr die Idee von Ordnung. Nur noch ein Schubladentrenner, ein weiteres PAX-Element oder Hänge-Utensilo – und dann stellt sich auf magische Weise jene langweilige, beige Aufgeräumtheit ein, auf die doch offiziell niemand Wert legt. Sie spiegelt sich auch im „schlichten, skandinavischen Design“ wider, das eben von Minimalismus und Ästhetik geprägt ist – und von neutralen Farben, ich will aber nicht schon wieder darauf herumhacken. Das verkauft sich, seit Jahren schon – offenbar ist es eben doch ein Thema.

Macht ihr nur – und lasst mich machen

Ich bin mit meiner Aufräum-, Ausmist- und Sortier-Aktion jedenfalls fast durch inzwischen – ich müsste noch einige eBay-Auktionen und Kleinanzeigeninserate schalten und kann mich aus $GRUENDEN nicht recht dazu aufraffen. Mein erklärtes Ziel lautete: keine eingelagerten Kisten mit $KRAM mehr – und das habe ich so gut wie erreicht. Entweder ist in der Kiste etwas, das ich haben will – dann steht es fortan in Reichweite und wird genutzt. Oder eben nicht – dann wird es verkauft, verschenkt oder entsorgt. Ausnahme: saisonale Dinge wie „Weihnachtsschmuck“ und das ältere Notfall-Ersatz-Aquarium.

Man muss halt abwägen, was einem wichtiger ist – und Zeug suchen zu müssen ist mir bedeutend mehr verhasst, als eine grundsätzlich etablierte Ordnung aufrecht zu erhalten.

Ich gehe nicht davon aus, dass meine armen Kinder dadurch einen irreparablen Schaden fürs Leben erleiden. Ich glaube vielmehr an meine Vorbildfunktion auch in diesen Belangen: sie tun nicht was ich sage, sie tun was ich tue. In weniger ausgeprägtem Maße als ich, und da das für mich völlig in Ordnung ist, entstehen nur wenig Reibungspunkte an dieser Stelle. Die Unordnung anderer ficht mich üblicherweise nicht an. In der Zusammen-Wohnen-Situation ist es sehr von Vorteil, wenn ich eine Tür zwischen mir und dem Chaos anderer schließen kann und es nicht sehen muss.

Aber: ich sehe einen massiven Unterschied zwischen „Unordnung“ und „Dreck“ – mit letzterem kann ich gar nicht, auch nicht mit Türen dazwischen, und ich will es auch gar nicht können müssen 😎

Alle Bilder dieser Seite: © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
Hintergrundbild: Der obere Herdbereich in einem Lost Place, 2015, 1500x 1000px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten

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