„Ich hab den ganzen Tag geputzt und bin nicht zufriedener als vorher“

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„Also ich hab das jetzt für euch ausprobiert: ich hab den ganzen verdammten Tag geputzt und geräumt und geräumt und geputzt. Un-un-ter-brochen. Und was ist: ich fühl mich kein Stück zufriedener als heute morgen! Also ihr könnt das sein lassen, es bewährt sich überhaupt nicht.“

Diese Direktnachricht schickte ich Bekannten, und die konnten meine Negativerfahrung leider nur bestätigen. Wir waren uns da recht einig: die blöde Putzerei bringt nichts, und in Zukunft sollten wir das sein lassen 😎 Doch in der Sache steckte für mich Subtext, das wurde mir in den Stunden danach klar. Denn normalerweise bin ich schon recht selbstzufrieden, wenn ich meinen samstäglichen Putzmarathon erfolgreich beendet habe. Warum inzwischen nicht mehr, was hat sich geändert?

Natürlich hatte ich, das wurde mir in der Rückschau nochmal deutlich, in den vielen Stunden nicht bloß geputzt: ich hatte Altlasten aussortiert, Schränke geräumt, Regalbretter gewischt, jedem Ding seinen Platz zugewiesen. Mehr als sonst, anders als sonst und viel pingeliger. Irgendwann wurde mir klar: ich mache nicht mehr nur sauber, ich mache „klar Schiff“. Eine Art umgedrehter Nestbautrieb für den Fall, dass jemand kurzfristig meinen Scheiß erben und aussortieren muss. Und daher auch das miese Gefühl.

Dinge aufzuschreiben hilft mir, sie sofort sehr viel klarer zu sehen. Und das hier schwarz auf weiß ist für mich nur mit einer Flasche Hochprozentigem auf dem Schreibtisch zu ertragen, was sich vermutlich auf die Textqualität auswirken wird. Tatsächlich habe ich hier ja schon einmal notiert, dass ich Angst vor dem Coronavirus und seinen Folgen habe, doch vermutlich war das eine sehr harmlose Formulierung dessen, was ich empfinde. Die Phase der Schreckensstarre habe ich ein Stück weit hinter mir gelassen, inzwischen bin ich eher getrieben von Wut und Unrast und weiß kaum mehr wohin mit mir. „SCHREIBEN“ steht auf einem Post-It an meiner Schreibtischlampe, weil ich gar zu oft vergesse wie sehr mir das beim Sortieren hilft. Also: schreiben.

„Nicht richtig gesund“ zu sein genießt in unserer Gesellschaft kein hohes Ansehen. „Richtig krank“ ist irgendwie okay, und das sogar dann, wenn es zum Schlimmsten kommt. „Richtig krank und dann genesen“ ist ebenfalls okay, und dann wird oft und gerne über die schlimme Zeit gesprochen und wie man alles überstanden hat. Zudem sind akute Schmerzen, vor allem für Außenstehende, einfacher, greifbarer: auch durch die Maßnahmen, die ergriffen werden, die Reha vielleicht oder Schmerzmittel oder Orthesen. Aber eben bitte doch nur temporär und dann hat gefälligst alles wieder gut zu sein.

Aber was, wenn es das mit dem „wieder gut“ nicht recht funktionieren mag? Darauf ist die Gesellschaft irgendwie nicht eingestellt, der Umgang damit fällt schwer. Entweder es geht dir für alle klar erkenn- und sichtbar schlecht, oder du hast die Klappe zu halten und dich nicht anzustellen. Ich war zwanzig als passierte, was in dem Alter nicht hätte passieren dürfen, wozu ich zu jung war und was es doch eigentlich in dieser Wucht überhaupt nicht gibt. Das volle Programm mit Notarzt und vielen Wochen Klinik und, um mal nicht nur um den heißen Brei herum zu reden, mehreren Thrombosen und Lungenembolien und genetischer Komponente (und selbst das ist nur die Spitze des Eisbergs, in diesem Kontext soll sie aber genügen). Mir war die ganze Tragweite überhaupt nicht bewusst, nicht die Ernsthaftigkeit, wo ich doch erst zwanzig war und mich wie alle Zwanzigjährigen unsterblich fühlte. Sie gaben mir Medikamente, aber die starken, die richtig starken – die von denen man anfängt zu kichern und zu fliegen und einem alles völlig egal wird. Das weiß ich deshalb noch so genau weil ich dann ganz prima und traumlos und angstfrei durchschlafen konnte. Und weil das meine letzten schmerz- und traum- und angstfreien Nächte waren.

Ich habe es also nicht überstanden; ich habe es überlebt. Und es wurde nie wieder „gut“ – geblieben sind mir nicht unmittelbar sichtbare Schäden, viele Einschränkungen… Und Schmerzen. Die sind – mal mehr, mal weniger – immer da, sie gehen nie weg und kommen aus jener Tiefe, die übliche Schmerzmittel nicht erreichen können und vor der auch Ärzte kapitulieren. Der Pegel, der Ausnahme sein sollte, ist für mich Normalzustand.

Wozu führt das? Was macht das mit mir?

Es ist ein diffuses Gefühl von Nervosität, oft vermutlich gar Aggression. Es lässt mich angespannt sein in Situationen, in denen niemand es je vermuten würde. Der Schmerz schärft alle Sinneswahrnehmungen – Gerüche, Geräusche, Temperaturunterschiede, das Ziepen beim Haarekämmen mutieren schnell zu Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen. Nur, dass mir das oft erst bewusst wird, wenn es zu spät ist: wenn ich barsch war, ungeduldig, unfair. Und mich dann selbst dafür verachte, dass ich das mit dem „Zusammenreißen“ nicht (mehr) konsequent schaffe (fiel mir früher tatsächlich leichter, ist vielleicht so ein Altersding?).

Durch diese latente Angespanntheit bin ich enorm schreckhaft, was meine Umwelt unendlich amüsiert – und dazu animiert, mich wieder und wieder zu erschrecken und sich über meine Reaktion totzulachen. Sowas stresst mich, weil es den Pegel künstlich hochtreibt. Schon kleinere Verletzungen empfinde ich als Zumutung, weil das Maß einfach vorher schon voll war – von außen wirkt das zimperlich. Weil ich nie darüber rede. Weil fast niemand über sowas spricht und alle zu funktionieren haben. So sehr ich Tattoos mag, ich würde mich – rein aufgrund der damit verbundenen Empfindungen – niemals tätowieren lassen, und all meine Piercings sind aus der Zeit davor.

Die Zeit davor.

In der Zeit danach schränkt es mich ein, jeden Tag und immer mehr; fast kein Lebensbereich bleibt unberührt. Es beeinflusst die Wahl meiner Kleidung, meiner Sportart, die Gestaltung meines Tagesablaufs, die Familienplanung. Keine Heilung, auch keine Besserung, es könnte jederzeit wieder zuschlagen. Jetzt haben wir Corona, und was meint ihr wie ich mich fühle bei Meldungen wie Jeder zweite COVID-19-Tote hatte Gerinnungsstörungen(SPRINGER) und Corona-Patienten sterben überraschend oft an Embolien(WELT)?

Dabei erwarte ich keine Zauberei. Mir ist klar, dass die Ärzte selbst ganz am Anfang stehen und es wenig belastbare Daten gibt – und meine Diagnose ist nun auch weniger populär wie „Bluthochdruck“ oder „massives Übergewicht“. Aber die Hinweise verdichten sich inzwischen, dass ich damit beim besten Willen nicht spaßen sollte – und niemand mich mit meiner Angst belächeln, auch und vor allem Ärzte nicht. (Einschub: Leute ihrer Ängste wegen nicht mehr auszulachen wäre generell eine sehr geile Idee; auch und vor allem dann, wenn man diese Ängste nicht nachvollziehen kann. Nur mal so.) Denn ich falle mit meiner Kombination von Diagnose, Vorgeschichte und Lebensalter durch jedes Raster – und will nicht einer der bedauerlichen Sterbefälle sein, aufgrund derer sie ihre Handlungsempfehlungen anpassen.

Und so versuche ich weiter und zunehmend verzweifelt, einen Facharzttermin aufzugabeln, um mir von jemandem mit Fachkenntnis die Lage erklären, vielleicht sogar ein paar Ängste nehmen und/ oder die Medikation jetzt anpassen zu lassen. Bislang völlig erfolglos, und am liebsten würde ich Leserbriefe an den Drosten-Podcast oder irgendwas verfassen wenn es denn nur was bringen würde. Lese derweil von Demo-Party auf dem Landwehrkanal(RBB24), den Rufen nach Lockerungen und Normalität. „Das kann doch nicht sein, diese Beschränkungen unserer Grundrechte“ lese ich auf Ex-Twitter und möchte alle anschreien „Aber was ist denn die Alternative?!“. Dabei ist die ziemlich einfach, nur halt nicht leicht zu verstehen: dass verschiedene Leute eben schlimmstenfalls zu einer Zahl in einer Statistik werden – und das billigend in Kauf genommen wird. Ein paar Prozent Verlust sind halt immer.

In diesem Sommer ist für Menschen wie mich kein Platz da draußen. Gerade fühle ich mich relativ safe im „Remote Office“ und den Kids zu Hause (was aufgrund der Attestierung des hohen Risikos derzeit möglich ist). Das Dumme daran: nach den Sommerferien (Stichworte „das mit dem Attest kann man ja wohl nicht für immer so weitermachen“ und „Schulpflicht“; Herbst und kalt; auf dem Schulhof müssen Masken getragen werden, im geschlossenen Klassenraum nicht; zwischen zwei Unterrichtsstunden wird mal kurz das Fenster gekippt) wird es mir unmöglich sein, mich alldem zu entziehen. Aber yay, vielleicht wird ja tatsächlich engmaschiger getestet werden? Aus epidemiologischer Sicht sicher zauberhaft, mir persönlich bringt es halt nichts (ich glaube auch nicht daran, dass es überhaupt geschehen wird – kostet schließlich Geld, und wer möchte das schon in die Hand nehmen?). Ich kann einfach nicht fassen, dass (vor allem) im schulischen Bereich alternative Konzepte nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen werden; das ist halt nicht „Bundesliga“, nicht so wichtig wie „Lufthansa“, nicht so systemrelevant wie „Biergarten“. Warum keine Aufhebung der Präsenzpflicht? Viele Eltern richten ihre berechtigten Proteste in Richtung Politik: Homeschooling und Homeoffice, das ist keine Kombination, die auf Dauer zu ertragen ist. Recht haben sie! Doch wenn die einzige Antwort der Politik darauf ist, die Schulen wieder aufzusperren und (endlich mal!) für Seife und fließend Wasser auf den Toiletten zu sorgen – dann verlange ich, eine Wahl zu haben. Zumindest, bis ich belastbare Aussagen zu Risiko, (eventueller) Medikation, Verhalten im Ernstfall etc. habe. „Aber du kannst doch nicht wollen, dass deine Kinder zu Hause bleiben müssen“ – was hat das denn auch mit wollen zu tun?! Natürlich will ich das nicht! Ich will diese ganze Pandemie nicht, nicht den Lockdown und nicht die Kontaktbeschränkungen. Aber was ist denn die Alternative?

„Die Menschen halten sich an die Regeln“ freut sich der zitierte Virologe im Interview mit dem SR, und ich kann mir das nur so erklären dass er weder an Pfingsten spazieren noch irgendwann in den letzten Wochen im Supermarkt war: viele Leute scheißen auf die Regeln, und sie fangen wüste Diskussionen an, wenn auf deren Einhaltung gepocht wird. Da wird gegen die Gesichtsmasken gewettert, persönliches Unbehagen über Solidarität gestellt, lest mal auf Ex-Twitter #Maskenpflicht – mir wird da instant schlecht. Und ja doof, die Leute gehen gar nicht mehr so shoppen wie vorher und die Impulskäufe sind das, was die Wirtschaft am Leben erhält(WELT)? Wir denken lieber nicht zu lange darüber nach, wie kaputt das alles im Grunde genommen ist.

Spart es euch, mein Weltbild über verletzende Kommentare oder aggressive Mentions „gerade“ rücken zu wollen, in meiner aktuellen Verfassung bin ich nicht diskussionsbereit. Denn gegenüber den meisten von euch habe ich einen Wissensvorsprung. Ich weiß zu gut wie es ist, unter schlimmsten Schmerzen zu atmen und dennoch fast zu ersticken.

Und sich gedanklich zu verabschieden.

Alle Bilder dieser Seite: © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
Hintergrundbild: Eines meiner ersten Digitalbilder, wie koennte es anders sein: nach Sonnenuntergang, 2008, 1499x 690px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten

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