Kognitive Dissonanz

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

„Ich glaub wir alle sind uns einig, dass wir Kinder in der Schule sehen möchten.“ -- Prof. Dr. Lothar H. Wieler, Präsident des RKI in Ausgabe #53 des „Corona Virus Update“

Ja, das sind wir. Wir sind uns außerdem einig, dass wir keinen Bock mehr haben auf Pandemie, Einschränkungen und die ganzen Sorgen. Uns deshalb aber wie wütende Kleinkinder auf den Boden zu werfen und Normalität zu befehlen ist meines Erachtens nach beeindruckend lebensfern – und nichts anderes passiert da gerade auf Ebene der dafür Zuständigen1.

Im März hat sich unser aller Leben radikal verändert: Schulen und Kitas mussten schließen. Und nicht nur, dass die verblüfften Kinder nun den ganzen Tag zu Hause waren und neben dem eigenen Job betreut werden durften – man konnte den anfallenden Aufgabenberg ja auch mit niemandem außerhalb des eigenen Haushalts sinnvoll teilen. War das einfach? Natürlich nicht. Aber jeder hat sich bemüht, es irgendwie zu handhaben. Das allgemeine Verständnis erweiterte sich, Begriffe wie „Inzidenz“ und „Reproduktionszahl“ und „Infektiosität“ erreichten den aktiven Wortschatz vieler. Und es funktionierte – im Sinne von „wir kamen mit einem blauen Auge davon“. Im Sinne von „auch im EU-Ausland ging es überwiegend heftiger ab als bei uns“. Darauf ruhen sich die Zuständigen1 nun aus und lassen sich abfeiern. Zahlreiche Tote hatten wir trotzdem; und ich schreibe bewusst nicht „Todesfälle“, denn das klingt so nach „Locher“ und „Ordner“ und „abheften“, es waren aber denkende und fühlende Menschen mit Gesicht, und sie könnten noch unter uns weilen.

Das Virus grassiert inzwischen weltweit, es richtet nachweisliche und messbare Schäden an, und die Bevölkerung wurde wochenlang in die Einhaltung der AHA-Regeln & Co. eingewiesen. All das – sowie der Blick ins Ausland, wo das Infektionsgeschehen sich weit weniger glimpflich zeigt – bestärkte viele in der Annahme, dass die Maßnahmen im Frühjahr richtig und wichtig waren. Doch dann traten die jeweils dafür Zuständigen1 die Lockerungen an, die völlig unvorbereiteten Schulöffnungen, das Beharren auf Präsenzpflicht der Schüler unter aktiver Missachtung jeglichen wissenschaftlichen Kenntnisstands – und damit kam die kognitive Dissonanz. Denn es ist so:

  1. Entweder waren die Maßnahmen im Frühjahr richtig und wichtig: dann ist es unabdingbar, dass alle sich auch weiterhin an alle Maßnahmen halten, egal wie unbequem und lästig die auch sein mögen.
  2. Oder es ist eben alles doch nicht so schlimm: dann waren die Maßnahmen im Frühjahr okay, wir wissen aber, dass wir sowas in Zukunft nicht mehr brauchen werden; das Leben kann dann so weiterlaufen, wie es vor März war – wir sollten nur alle öfter mal die Hände waschen.

In dieser Sache gibt es nur „schwarz“ und „weiß“. Was die Zuständigen1 im Moment jedoch versuchen sind Graustufen – 1. zu propagieren und 2. aber an jenen Stellen auszurollen, an denen 1. zu unbequem oder zu teuer wäre. Da das aber völlig unwissenschaftlich und unlogisch ist werden Menschen zornig, fühlen sich verunsichert – und versuchen, sich entweder für 1. oder 2. zu entscheiden und das dann zu leben. Das wiederum ist nicht jedem möglich: ich zum Beispiel bin klare Verfechterin von 1., werde aber, da ich schulpflichtige Kinder habe, zu 2. gezwungen; das macht mich buchstäblich krank, und mein Hirn rollt in meinem Kopf herum, um sich aus diesem Dilemma irgendwie herauszuwinden. Andere treibt es vielleicht auf die Straße, wo sie bescheuerte Banner schwenken und bei der Gelegenheit auch gerade noch den restlichen angestauten Frust rauslassen.

„Bildungsministerin Streichert-Clivot sieht den Schulstart im Saarland als gelungen“ -- SR Mediathek vom 26. August 2020

Nun, das muss sie ja auch. Je nachdem was erreicht werden sollte stimmt es sogar: seit Ende der Sommerferien begeben sich die Kinder wieder auf ihre wie auch immer gearteten Schulwege und sitzen dann ihre Zeit in den Klassenzimmern ab – der Präsenzpflicht ist also stumpf Genüge getan, Applaus! Mehr aber halt auch nicht. Es bleibt völlig inakzeptabel, ganze Bevölkerungsgruppen (so zum Beispiel „Schüler“ oder „Lehrer“) von bestehenden Reglungen zum Gesundheitsschutz auszunehmen und auf gut Glück voraus zu schicken; Infektionen nebst eventueller Folgeschäden bei den Jüngsten billigend in Kauf zu nehmen; genau wie auch die Eintragung des Virus in die Familien. Und das alles unter dem Deckmantel von Bildungsgerechtigkeit und sozialer Teilhabe.

Die sogenannten Hygienekonzepte sind keine Konzepte, die sind maximal ein überaus wirkungsloses Sedativum – das war spätestens dann klar als sich zeigte, dass die Sache mit den „Kohorten“ keine Mehrkindfamilien berücksichtigt (lest ruhig mal, was sich unter #BildungAberSicher alles ansammelt). Die gesamten Mängel des Schulsystems erscheinen jetzt mit einem Feuerwerk auf der Bühne… Dass sich Klassenzimmer oftmals überhaupt nicht sinnvoll lüften lassen ist nur ein einzelnes und winzig kleines Beispiel – lange bekannt, nie berücksichtigt, jetzt ein noch ernsthafteres Problem als ohnehin schon. Unser Schulsystem ist schlecht und unflexibel, es passt weder zu Kindern, noch zu Familien – und schon gar nicht zu einer Pandemie. Doch statt auf die Erarbeitung passenderer Konzepte zu setzen, diskutieren die Zuständigen1 über Bundesliga, Karneval und Wirtschaft und beißen sich, wenn es ums Bildungssystem geht, mit pawlowscher Hartnäckigkeit an dem fest, was auch vor Corona schon Kacke war.

„Kann nicht“ heißt „will nicht“. Ja, so einfach ist das.

Meine Kinder besuchen täglich die Pseudonormalität ihrer Schule, und somit stehe ich als Risikopatientin sozusagen mit nacktem Hintern im Wind. Mit dieser permanenten Angst kann ich aber nicht leben, weil sie mich zermürbt, mir jede Lebensfreude raubt und mich zu Sinnfragen wie „wozu das alles überhaupt?” treibt. Es gibt nur einen Weg aus dieser kognitiven Dissonanz heraus: es wird schon alles nicht so schlimm sein; die testen ja jetzt auch viel mehr als am Anfang; und wozu soll ich in meiner Freizeit weiterhin auf alles verzichten, wenn wir gegen unseren Willen ohnehin vollständig exponiert sind?

Liebe Zuständige1, aus meiner Sicht habt ihr’s versaut. Und anstatt das zuzugeben versaut ihr es immer weiter. Und ihr versaut es gerade auf mehr als nur einer Ebene. Wacht endlich auf.

  1. „Die Zuständigen“ dürft ihr beim Lesen ganz nach eigener Befindlichkeit ersetzen durch: Unfähige, Ahnungslose, Machtversessene, auf die nächsten Wahlen Schielende, Arschlöcher, sich Profilierende, Realitätsferne, nicht selbst Betroffene, selbst nur hinter Plexiglas Agierende, Vollpfosten oder was immer euch am ehesten zusagt. ↩︎ ↩︎2 ↩︎3 ↩︎4 ↩︎5 ↩︎6

Alle Bilder dieser Seite: © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
Hintergrundbild: Sammlung von Clexane-Spritzen, 2020, 1500x 630px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten

Eure Gedanken zu „Kognitive Dissonanz“

Nicht jeder Gedanke erträgt Diskussion.
Das hier ist so einer.
Deshalb bleibt die Kommentarfunktion für Artikel dieses Bereichs deaktiviert.