„... ist niemand ohne Vorerkrankung an Corona gestorben“

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Nur noch einmal am Tag wollte ich Nachrichten lesen, dafür dann ganz gezielt. Das ist nicht so leicht, und an manchen Meldungen kommt man auch einfach nicht vorbei.

So auch die, dass es ja ohnehin in erster Linie alte Leute und solche mit Vorerkrankungen treffe. Das hat so einen Beigeschmack von ätschi-bätschi, oder? Selbst schuld, warum hast du auch Diabetes, eine Herzerkrankung oder bist zu dick? Du wärst sowieso draufgegangen, denn „das Virus sei in diesen Fällen der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe“.

Bei dem Begriff „Risikopatient“ gehen Entscheidungsträger offenbar in erster Linie vom älteren übergewichtigen Mann im Rentenalter und mit Vorerkrankungen aus, der auch im Falle gelockerter Maßgaben freiwillig in Zurückgezogenheit verbleibt und nicht unbedingt von Frühchen, kleinen Kindern mit Herzfehlern oder Menschen mittleren Alters mit unsichtbarer Vorgeschichte. Ich bin Risikopatientin – und mit schulpflichtigen Kindern ist das mit der Isolation ein Ding der Unmöglichkeit, wenn der Schulalltag erst wieder anläuft Denn ab Sommer kommen dann beide mit mindestens 25 Kindern täglich zusammen, die ihrerseits Eltern, Familien, vielleicht Geschwister gar in anderen Einrichtungen haben. Und genau wie Scharlach und Magen-Darm und Hand-Mund-Fuß und Bindehautentzündung und Läuse werden sie auch Corona nach Hause bringen, früher oder später. Die Rufe nach einer Lockerung der Maßnahmen werden immer lauter, und das fühlt sich an wie die Erwartungshaltung, dass Leute wie ich zum Wohle aller dann halt über die Klinge springen. Pech gehabt, hm?

Das verursacht mir Panik, häufiger und öfter, eine Klammer aus Eis. Gepaart mit Flashbacks, damals, die Zeit im Krankenhaus, die Schmerzen; als ich nicht atmen konnte; als ich jeglichen Schlaf verweigerte weil ich mir absolut sicher war, für immer einzuschlafen. Ich wusste nicht einmal, dass diese Erinnerungen noch da sind, und dass sie sich jetzt wieder aufdrängen trifft mich hinterrücks und mit voller Wucht – ich dachte ich sei drüber hinweg. Klar will das keiner hören. Klar kann das kaum einer verstehen. Und vor 10 Jahren bin ich selbst noch sehr viel laxer mit alledem umgegangen. Aber jetzt habe ich Kinder, und mit den Kindern kam die Angst, denn jetzt geht es nicht mehr um mich. Wie umgehen mit dieser Panik? Als ich echt in Not war habe ich diese Frage als Tweet formuliert und viele liebe Antworten erhalten – Meditation und Atmung und Rituale und ich muss sehen, was davon ich für mich vielleicht übernehmen kann. Überraschenderweise habe ich an meine erste und liebste Strategie gar nicht gedacht, die mir immer hilft, durch die ich immer klarer sehen und fühlen kann – das Schreiben. Ich muss mehr schreiben.

Ich war auch sonst Themen wie (natürlich auch digitaler) Nachlassverwaltung, Patientenverfügung, Organspende gegenüber nicht unaufgeschlossen. Jetzt allerdings fühlt es sich nicht mehr theoretisch genug an, als dass ich mich ohne Heulkrampf damit befassen könnte – es bringt mich emotional an den Rand. Ich sehe mich aber in der Pflicht, das alles zu tun, gerade ich. Denn ich bin Risikopatientin – und die Rufe nach einer Lockerung der Maßnahmen werden lauter.

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