Herzlichen Glückwunsch

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Es ruckelt stärker, und ich starre auf das grüne Tuch vor meinem Gesicht. „Das Kind wird jetzt entwickelt“ erklärt mir eine Frau in Grün, und in Laiensprache übersetzt heißt das wohl soviel wie: jetzt reißen sie es endgültig aus mir heraus. Eilig wird es zu dem vor der Tür wartenden Team aus Hebammen und Kinderärzten gebracht, es schreit nicht.

„Herzlichen Glückwunsch“ sagt die Frau in Grün, und ich starre sie verständnislos an. Glückwunsch wozu? Ich schließe die Augen.

Mein Kind kam in der 32. Schwangerschaftswoche (31+5) zur Welt, und mit „freudigem Ereignis“ hat das für mich so gar nichts zu tun. Es war eine Operation, keine Geburt, ich hatte kein Kind zur Welt gebracht – ich war ja allein auf dem Zimmer, und auch als man mir später einen vollverkabelten Minimenschen in einem Inkubator zeigte wich das Gefühl der Leere nicht. Herzlichen Glückwunsch also wozu? Dass ich es nicht geschafft hatte, das Kind noch etwas länger im Bauch zu behalten? Dass es nun in einem Plastikkasten liegen muss, die Händchen blau von den vielen Versuchen, die Infusionsnadel richtig zu legen? Dass es mit seinen winzigen Äuglein in grelles Licht starren muss, dass es Hektik und Lärm und Alarmsignale der Intensivstation ertragen muss? Dass es völlig wehrlos alles erdulden muss, was mit ihm angestellt wird, und ich kann es nicht davor bewahren? Viel zu früh hatte ich es ins Leben hinausgeschubst, und ohne Ärzte und Pflegepersonal, ohne Medikamente und technisches Gerät war es doch kaum lebensfähig.

War die Schuld bis dahin nur ein Gefühl gewesen, so nahm sie mit dem ersten Blick in den Inkubator Gestalt an. Wie soll ich keine Schuld verspüren beim Anblick dieser 41cm Mensch, verpflastert, mit Einstichstellen und blauen Flecken, nackt bis auf eine viel zu große Windel, die winzigen Zehen, das hektisch schlagende Herz? „Es tut mir leid“ war alles, was ich immer wieder flüstern konnte, während ich die winzigen Haare auf dem winzigen Köpfchen streichelte. Erst habe ich dich nicht halten können, ich habe dich nicht wirklich begrüßt und dich im weiteren Verlauf nicht beschützen können – oft musste ich dich ganz verlassen. Dazu kommt mein eigener Schmerz, körperlicher Schmerz, der von der Operation und der Lagerung herrührt, aber schlimmer noch meine Trauer – darüber, wie alles gekommen ist, dass mein Bauch plötzlich leer und keine Bewegungen mehr spürbar sind. Ich weiß nicht, ob ich darüber je hinweg kommen werde. Aber es erscheint mir auch unwichtig in Hinblick darauf, wie die Kleine das wohl meistern wird.

Theoretisch wäre ich heute 33+1. Sie liegt nicht mehr auf der Intensivstation, ich darf mir sogar ein Zimmer mit ihr teilen. Nach dem Füttern kuscheln wir uns aneinander, und manchmal schlafen wir dann beide. Sie ist so tapfer, dass ich mir ein Beispiel daran nehmen sollte. Ich hingegen möchte – außer Mann und Rumpelstilzchen – niemanden sehen und hören. Ich bin schnell gestresst und überfordert, und ich ertrage es nicht, wenn an dem Baby, dass eigentlich noch in meinem Bauch sein sollte, herumgefummelt oder es auch nur angestarrt wird. Mir ist auch nicht nach Reden – vielleicht, weil sowieso niemand zuhört, weil alle Freude erwarten. Schreiben tut gut.

Und so sitze ich mit dem Laptop auf meinem gefühllosen und leeren Bauch, tippe und schaue immer wieder auf das schlafende Engelsgesicht im Wärmebettchen.

Heute bist du zehn Tage alt. Herzlichen Glückwunsch.

Alle Bilder dieser Seite: © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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