Hinter der Fassade

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November… es ist dunkel draußen, stürmisch und kalt, dazu Chad Lawsons „Paper Shadows“… nicht gut für mein melancholisches Herz. Heute ist der richtige Abend euch mitzunehmen auf einen Ausflug.

Ich war schon so oft hier – der Ort ist in unmittelbarer Grenznähe, und trotzdem fühlt sich ein Spaziergang dort immer wie Urlaub an: die winkligen, überaus steilen Kopfsteinpflastergassen; die zwischen den Fronten gegenüberstehender Häuser gespannten Ketten, an denen sich alte Straßenlaternen im Wind wiegen; die wahnsinnig schmalen und dafür sehr hohen, dicht an dicht gebauten Gebäude; der Bachlauf, der sich mitten durch den Ort zieht und hinreißend plätschert – quakende Enten und in der Sonne tanzende Mücken. Alles scheint hier irgendwie ruhig und entspannt, und die Anwohner grüßen im Vorbeigehen und lächeln.

Der Ortskern ist historisch, dreizehntes oder vierzehntes Jahrhundert, ich hab’s vergessen; an den halbmeterdicken Mauern des alten Tors sind die Hochwassermarken der vergangenen 150 Jahre aufnotiert, und die Gemeinde ließ an zahlreichen Gebäuden Informationstafeln anbringen: wer hat es wann errichtet, warum – und gibt es eine Geschichte dazu? Wurde es bombardiert, brannte es nieder, wurde es zwischenzeitlich wieder aufgebaut? Und so schlenderte ich schon so oft gemütlich, entzifferte die Tafeln, verjagte die Mücken und stolperte auf den willkürlich verwinkelten Treppenstufen herum. Auf denen, die zu der beinahe absurd großen katholischen Kirche hinaufführen, mache ich diesmal eine Pause.

Je länger ich mich heute umsehe, desto mehr Details entdecke ich plötzlich. Die Kirche ist schön und irgendwie pompös, Fundament und Sockel wirken allerdings nass und weisen große Schäden auf. An der Außenmauer eines Hauses schwebt ein marmorner Kamin, offenbar wurde das Nachbarhaus eingerissen – lange muss das her sein, wächst doch an seiner Stelle nun ein Baum. Die freischwebende Feuerstelle ist blaugrau und wirkt surreal. Überhaupt fällt zwischen die hohen schmalen Häuser nur wenig Sonnenschein, und ich entdecke dicke Schichten dunkelgrünen Mooses und die Spuren von Feuchtigkeit, die sich kontinuierlich in Gestein frisst.

Die freundlich grüßenden Anwohner sind, wie ich plötzlich bewusst wahrnehme, ausnahmslos Rentner, junge Menschen scheint es hier nicht zu geben; zum ersten Mal frage ich mich, wie sie ihre Lebensmittel und Getränkekisten wohl über das unebene und extrem steile Kopfsteinpflaster in ihre Häuser transportieren – vor allem im Winter. Es gibt hier keine Parkmöglichkeiten für Autos und nicht selten auch keine Zufahrtsmöglichkeiten, und wie regeln das wohl die Rettungshelfer?

Heute bin ich nicht alleine hier; wir schultern unsere Stative und Kamerarucksäcke und machen uns auf einen Weg, der uns über extrem unwegsames Gelände führen wird. Es ist bitterkalt – in der Nacht hatte es überraschend geschneit – und pockennarbige Reste dieses Schnees schmelzen in meine suboptimalen Schuhe hinein. Und dann stehe ich vor etwas und ver_stehe nicht, was ich da sehe – es dauert wirklich eine gefühlt lange Weile bis zu mir durchdringt, dass ich vor dem Kamin eines ehemaligen Wohn- oder gar Herrenzimmers stehe. Die Zwischendecken sind weg. Das Dach ist weg. Der Schnee macht es leicht, die Berge von Bauschutt erst auf den zweiten Blick wahrzunehmen – doch auch der Bauschutt ist auf dem besten Wege der Zersetzung. _„Wie lange steht es leer?“ flüstere ich verblüfft und erhalte ein Achselzucken. Wir gehen weiter. Nie habe ich etwas Vergleichbares gesehen, architektonisch, emotional. Es ist nicht einfach ein Haus sondern vielmehr eine Residenz, alt und ehrerbietend und geschichtsträchtig – und dennoch unbewohnt, unbewohnbar und unrettbar dem Verfall ausgeliefert. Der rückwärtige Teil des Gebäudes – von der Straße nicht einsehbar – ist bereits vollständig eingestürzt und der Rest in einem so überaus desolaten Zustand, dass sogar wir Respekt haben. Das Nachbarhaus ist noch schlimmer dran. Das Fiese ist jedoch, dass man das den Gebäuden von vorne nicht ansieht: sie könnten mal einen neuen Anstrich gebrauchen, ja, aber mit dem richtigen Investor, hinreichend viel Geld und etwas Liebe könnte daraus doch wieder ein Schmuckstück werden? Jetzt weiß ich es besser: es ist alles nur noch Fassade, der halbe Ort ist eine Fassade – und blickt man hinter diese, so wird einem Angst und Bange.

Wir machen einen langen, langsamen Spaziergang durch den Ort, den ich nun mit so völlig anderen Augen betrachte. Jetzt wissen wir, worauf wir zu achten haben, und steht man erst im richtigen Winkel – die Häuser sind so schmal, dass es pro Haus vermutlich nur einen richtigen Winkel gibt, und den muss man suchen – so erkennt man plötzlich die rückwärtig eingestürzten Dächer, die fehlenden Zwischendecken, und man riecht den Verfall – nur einen Hauch. Die teils sehr gut getarnten Ruinen stehen zwischen bewohnten Gebäuden in nicht wesentlich besserem Zustand – in einem denkwürdigen fünfstöckigen Gebäude sind Erdgeschoss und erster Stock von Menschen bewohnt, der dritte steht leer und im vierten und fünften mit nahezu ausnahmslos kaputten Fenstern tummeln sich die Tauben. Wie muss das riechen, im Sommer, wie steht es hier mit der eigenen Gesundheit, warum leben die Menschen so? Wenn eines der Gebäude final fällt, gibt es vermutlich kein Halten mehr – vor meinem geistigen Auge sehe ich arrangierte Dominosteine.

Über dem gesamten Ort hängt der Geruch von Holzfeuer, und das verwundert kaum – die Gebäude sind alle nicht unterkellert und verfügen meiner Schätzung nach auch nicht über Zentralheizungen. Grob überschlagen beträgt der Leerstand im Ortskern mehr als 50%. Wir passieren einen Friedhof und beschließen, auch diesem einen Besuch abzustatten. Er liegt in Hanglage, die Gullys gurgeln vom ablaufenden Schmelzwasser und der unglaublich zähe Lehmboden klebt an den Schuhen bis jeder Fuß gefühlt 5kg schwerer ist als zuvor. Ich mache ein Foto von einem Grabstein um später nachschlagen zu können, was es mit „7 Tébeth 5668“ auf sich hat – ich werde viel über jüdische Zeitrechnung lernen und mich schämen, dass ich davon zuvor so gar nichts wusste. Die Gräber sind in fürchterlichem Zustand, und diese Lieblosigkeit tut mir in der Seele weh. Es scheint, als hätten die Lebenden wie die Toten gleichermaßen diesen Ort aufgegeben. Wir haben eine lange Heimfahrt vor uns. Es nieselt, und ein paar Schneeflocken sind auch dabei; ich wende mich zum Gehen und trete beinahe auf einen Oberschenkelknochen. Ungläubig knie ich davor und betrachte ihn, er ist unzweifelhaft und grünlich und ich habe plötzlich Tränen in den Augen. Ich will hier weg. Mir ist kalt, und das alles ist so traurig. Die Stimme neben mir sagt „lass uns gehen“; dankbar stehe ich auf, das Auto parkt am Flussufer.

Häufig frage ich mich seither, wie sehr der erste Blick, die oberflächliche Wahrnehmung wohl täuschen mögen. Wie viel ist Fassade, wo kann ich überhaupt dahinterblicken? Die schlimmere Frage ist vermutlich, ob ich das überhaupt will – denn ich werde meinen Ort nie wieder als romantisch oder gemütlich wahrnehmen können, vielmehr steht er in meiner Erinnerung für Verfall und Tod und Gleichgültigkeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dort noch einmal gemütlich umherzuschlendern, und daran ändern auch die tanzenden Mücken im Sonnenschein nichts und auch nicht die schönen alten Straßenlaternen und auch nicht die quakenden kleinen Enten.

Alle Bilder dieser Seite: © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
Hintergrundbild: Seit Jahrzehnten verschlossene Haupteingangstuer eines Lost Place, 2018, 1500x 690px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten

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