Minderwertigkeitskomplexe

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Da sitzen sie, Herr und Frau Nerd – er im kühlen Schatten und mit hochgelegten Beinen auf einem Stuhl, ich auf einer Liege, und wir beide tun, was wir gerne tun: wir lesen. Ich meinen Wälzer von Stephen King mit 1400 Seiten, er ein Hardcover von Ken Follet mit immerhin 1024 Seiten.

Eine Rentnerin spaziert vorbei, so braungebrannt, dass ein Menschenfresser ihre Haut angewidert an den Tellerrand schieben würde; auf den Armen trägt sie einen enorm großen Laptop nebst Ladegerät, und sie strebt der Empfangshalle entgegen, wo sie, gegen wöchentliche Gebühr, WLAN nutzen kann. Träge blinzle ich ihr hinterher und denke beiläufig „wie kann man nur…?“ Ob sie eine Mailadresse hat? Börsenkurse checkt?

Sonnentag reiht sich an Sonnentag, und langsam wird mir klar, dass außer uns offenbar a) nahezu jeder in der Anlage den Status „Renter“ trägt und b) nahezu jeder der Rentner einen WLAN-Zugang gebucht hat; zu bestimmten Uhrzeiten ähnelt die Empfangshalle mehr einem Hörsaal (wenn auch einem im Altenheim), die Rentner drängen sich dicht an dicht mit ihren mannigfaltigen Devices und starren mit konzentrierten Blicken auf ihre Displays. Mehr noch: ich wurde Zeuge einer Unterhaltung zwischen drei Menschen (deren Alter addiert ungefähr 260 ergeben dürfte), sie sonnten sich auf ihrer Terrasse und erläuterten sich gegenseitig die Gründe zur Kaufentscheidung des iPad („Und das iPad 2 erst! Auf das freue ich mich schon sehr!“) bzw. des Sony eBook-Readers. Denn, wie der Mann erzählte, er habe seiner Frau ja zuerst das iPad gekauft, damit sie ihre Bücher darauf lesen konnte – aber, wie die Frau einwarf, bei Sonnenschein hatte sie mit dem Display denn doch so ihre Probleme. Daher die zusätzliche Anschaffung des eBook-Readers, der an dieser Stelle besser geeignet sei – das iPad werde nun überwiegend für Skype und Bildbearbeitung genutzt. Und der dritte Herr schaute nicht etwa verdutzt, verwirrt oder gar WTF – der konnte prima mitreden, schwenkte seinen PDA und warf sich mit Feuereifer ins Wortgefecht.

Langsam ließ ich mein grob geschätzt 5kg schweres Buch sinken und betrachtete die drei Leutchen verblüfft; ich und Herr Nerd waren mit unserem Bücherfundus-für-drei-Wochen-und-zwei-Personen knapp am Gepäcklimit entlanggeschrammt, doch die Anschaffung eines eBook-Readers stand bei uns bislang mitnichten zur Diskussion. Und diese Leutchen, denen so gerne unterstellt wird, sie könnten keinen Geldautomaten unfallfrei bedienen, wissen nicht nur sehr gut bescheid – die haben zudem auch das nötige Kleingeld, sich diese Gimmicks anzuschaffen, und darüberhinaus Zeit und Muße, sich die Bedienungsanleitung reinzuziehen. Ich glaube, die Industrie hat diese Zielgruppe bis vor kurzer Zeit gar nicht auf dem Radar gehabt und dadurch recht viel Geld an sich vorüberziehen lassen. Ich jedenfalls finde diesen Trend irgendwie cool. Auch wenn er im Umkehrschluss bedeutet, dass ich hoffnungslos out bin.

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