Kamerad oder Spielzeug - Aufklärung oder Ehrfurcht
Hier nun das Kapitel „Aufklärung“ oder „Ehrfurcht“ aus der Informationsbroschüre „Kamerad oder Spielzeug?“ Die übrigen Kapitel findest du hier.
Erinnerst du dich noch, wie eines Tages das „Mysterium des Weibes“ in deiner Seele aufging? Wie es über dich gekommen ist wie eine Sturmgewalt und ein Urwort aus der Tiefe des Seins: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei!“? Ich weiß, lieber Freund, dieses urgewaltige Erlebnis kennt mancher Stadtmensch nicht mehr. Stadtjugend ist oft in einer Atmosphäre herangewachsen, die war geschwängert mit den Keimen der „Aufklärung“, der geschlechtlichen Verwirrungen und der niedrig-tierischen Reden. Ich bin als heranwachsender Junge einmal in eine großstädtische Arbeiter-Gesellschaft hineingeraten – noch heute steht mir die vollendete Scham- und Ehrfurchtslosigkeit der Menschen lebhaft vor der Seele, die in Gegenwart zweier unreifer Jungen sich über nichts zu unterhalten wussten als über das Brutal-Geschlechtliche. Ich bin heute noch froh, dass mich der Ekel, der Reiz zum Erbrechen aus diesem Dunst herausgetrieben hat.
Muss es so sein? Muss nicht in den Kreisen der städtischen Arbeiterschaft die Ehrfurcht vor dem tiefsten und urgewaltigsten Lebensgeheimnis zu voller Kraft erwachen? Könnten sich nicht an jeder Arbeitsstätte Männer finden, die vom Ekel an der tierischen Zote gepackt sind und ihren Einfluss mit voller Kraft geltend machen, dass eine reine Atmosphäre wenigstens da weht, wo Jugendliche tätig sind? Ist es nötig, dass heute noch ein Fall vorkommt wie der folgende: ein Arbeiter hat jungen Arbeiterinnen schamlose Zumutungen gemacht und ist abgeblitzt; und nun rächt sich dieser Kerl in der Weise, dass er, so oft er an den Mädchen vorübergeht, ein Kreuz schlägt und eine Kniebeugung macht – Ist das nicht einfach unerhört?
Aber, weißt du, woran es noch manchmal liegt, dass die Menschen ehrfurchtslos sind? An ihrer Unbildung: daran, dass sie den Weg ins Menschliche, in die Höhenluft geistiger Wesen nicht gefunden haben; dass sie in der dumpfen Atmosphäre des Tierischen, des Niederen jämmerlich steckenbleiben. Worüber sollten denn Tiere reden, wenn ihnen die Sprache verliehen wäre? Sie könnten bloß über Tierisches, Niedriges reden. Nur Menschen können über Menschliches reden.
Dass du Ehrfurcht vor den Mädchen hast, dass du in ihrer Gegenwart keine Zote redest, ist selbstverständlich. Dass du aber als geistiger Mensch die Zote bannst aus deiner Umgebung überhaupt, dass du Geistiges, Ernstes, Edles zu erzählen und zu reden hast, wo immer du stehst und bist, ist das auch selbstverständlich? Ist dir nun klar, wie sehr die Erhöhung des sittlichen Niveaus eine ernste, große S t a n d e s a n g e l e g e n h e i t des Arbeiterstandes ist?
Freund, ich bringe diese Dinge zur Sprache, weil ich mir sage, dass es ein Unglück bedeutet, wenn der junge Mensch zu früh der „Aufklärung“ verfällt, und wenn ihm die Aufklärung in einer Form gegeben wird, die brutal die Ehrfurcht vor dem Geheimnis zerstört. Dann ist er in Gefahr, ein Vergeuder des Lebens zu werden. Dann wird seine Einbildungskraft entmenscht, dann wird er Spielball der Begierden. Dann stirbt in ihm jenes unendlich Feine, das man die Sehnsucht nennt und die Ehrfurcht vor dem Weibe. Dann kann er nicht mehr das Liebeslied singen, sondern nur noch den Gassenhauer; nicht mehr den schönen Reigen tanzen, sondern nur noch die schamlosen Tänze der Entarteten. Ja, dann kann er überhaupt nicht mehr echt und wahr und von Herzen lieben. Das ist dann eine Katastrophe für ihn, für den künftigen Mann und Vater. Und zugleich für seine künftige Familie.
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