Ich häng’ an ihm

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Da ist er wieder, nachdem ich ihn über Wochen nicht zur Kenntnis nahm und ihn, wenn ich ehrlich bin, auch nicht wirklich vermisste. Da ist er, und er sieht ungepflegt aus, mitleiderregend irgendwie, unförmig geworden und so gar nicht modern. Da ist er wieder und ich drücke ihn an mich, und tausend Erinnerungen bringt er mit sich.

Er war bei mir, als ich, von Liebeskummer geplagt, mich auf der Couch einrollte und „Sommersby“ schaute, bitterlich weinend. Ausgerechnet „Sommersby“! Ich weiß nicht, welcher Teufel mich damals geritten hatte. Ich angelte nach der Rotweinflasche und schniefte in meine Wolldecke – sterben wollte ich. Er war dabei, als ich mein frisch gestrichenes Schlafzimmer ganz allein und nur in Begleitung einer Tasse Kaffee einweihte: zwei Wände ganz sachte hellblau, die beiden anderen Wände und die Schräge in einem gedeckten, doch sonnigen Gelb, und exakt an den Kanten angebracht eine wunderschöne Bordüre – was war ich stolz! Dagegen verblasste sogar die Tatsache, dass ich überhaupt kein Bett besaß, sondern lediglich eine Matratze auf dem Fußboden, und auch keinen Kleiderschrank – nur die exakt gestapelten Umzugskisten, in welche in meine kärgliche Garderobe gefaltet hatte. Aber es war meine eigene Wohnung. Allein das zählte.

Er belauschte stundenlange Telefonate und wurde Zeuge nächtelanger Hacking-Sessions; er beobachtete, wie ich mit einer soeben angerührten 5-Minuten-Terrine in der Hand stolperte und auf mein frisch bezogenes Bett meine frisch bezogene Matratze stürzte, die daraufhin mit Tomatenersatz und Teigwaren versaut war – und ich hatte nur einen Satz Bettwäsche und musste die folgende Nacht im Schlafsack verbringen. Er hat so manchen 23. Dezember miterlebt – traditionell der „Ich packe meine Geschenke ein“-Tag, an dem ich morgens zwar aufstand, mich aber nicht umzog, sondern den ganzen Tag rumgammelte, rauchte, trank und aus den Geschenkpapierresten „Himmel und Hölle“ faltete. Mir dabei die überraschten Gesichter der Beschenkten vorstellte. Der Miez mit Schrecklichkeiten drohte, wenn sie mir mal wieder das Geschenkbändchen wegschleppte oder die Tesa-Rolle auf Nimmerwiederfinden unter die Couch kickte.

Er ist mein Schlafanzug, ein ganz und gar abscheuliches Gebilde in schwarz und braun grau und beige; die Hose ist so oft geflickt, wie sie kaputtging, sie ist zu kurz inzwischen, und die gerissenen Elasthanfäden verwandeln das Ganze, rein optisch, in irgendetwas zwischen Kaktus und Flokati. Das Oberteil ist zu kurz, auch die Ärmel, und weist darüber hinaus noch zwei rosa Flecken auf – von jenem Tag, an welchem ich lernte, dass man zur Arbeit mit hochaggressivem Chlorreininger lieber alte Klamotten, nicht Lieblingsschlafanzüge tragen sollte. Bei jeder Kleiderschrank-Iteration halte ich ihn in den Händen, starre ihn lange an. Stopfe ihn dann entschlossen in einen reißfesten, umweltfeindlichen Sack, zwecks zeitnaher finaler Entsorgung. Zumeist wühle ich ihn wieder heraus, noch ehe ich zum Altkleider-Container fahre; beim letzten Mal wühlte ich ihn vor dem Altkleider-Container hervor – und nahm in auf dem Beifahrersitz wieder mit nach Hause. Lächelte ihn dümmlich an und stopfte ihn wieder in den Schrank zurück – hinterstes Fach, unterster Stapel.

Ihr nennt das durchgeknallt, und ich nenne das… na, wenn ich ehrlich bin… dito. Doch ich häng’ an ihm. Er erinnert mich an eine Zeit, in der das Geld am Monatsende lediglich für eine Kiste Katzenfutter und eine 5-Minuten-Terrine reichte. Und ich Geschirr in der Dusche spülte, weil ich keine Spüle in der Küche hatte. An laue Sommerabende auf dem Balkon, mit der Miez und der Gitarre und einem Kaffee. Und an meine Familie, die damals noch so groß war, dass das Verpacken der Weihnachtsgeschenke wirklich einen halben Tag benötigte.

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