Müdesomüdesomüdesomüde

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Ich war in Hamburg. Ich bin so furchtbar gerne in Hamburg und hatte mich sehr auf den Aufenthalt dort gefreut: auf Sesamkringelfuttern am Ponton, auf Rumlaufen an Hafen und Alster. Doch dann lag ich mit dem Kopf auf der Platte des Küchentischs und war zu müde zum Aufstehen.

Zu müde zum Reden.

Zu müde zum Essen.

Zu müde für alles.

Sieben Leben möcht’ ich haben:

Als Kind hatte ich, so schien es mir jedenfalls, unendlich viel Zeit. Die Spanne von Geburtstag zu Geburtstag wirkte unendlich, das vor mir liegende Leben erschien zeitlich unbegrenzt. Eine überwältigende Gewissheit: die Welt stand mir offen. Doch das jetzt vorherrschende Gefühl ist ein anderes: es ist, als liefe mir die Zeit davon.

Müde.

Eins dem Geiste ganz ergeben,
So dem Zeichen, so der Schrift.

Es gibt noch so viele Briefe, Postkarten, Artikel, Bücher zu lesen. Und zu schreiben! Länder zu bereisen, Gerichte zu probieren. Es gibt so viel zu lachen und zu staunen. Zu entdecken. Zu leben.

Und zu lieben.

Es gibt so viele Instrumente zu erlernen, Sprachen, Fähigkeiten. Motorrad zu fahren, auf Berge zu steigen, von Brücken zu spucken. Möbel zu restaurieren, Kleidung zu nähen, Häuser zu renovieren.

Ich liebe meinen Job, und oft scheint es mir, ich würde nur an der Oberfläche kratzen. Hier gibt es noch so viel zu lernen und zu wissen, so viel Spezialwissen, dass ich mir aneignen könnte und sollte! Und idealerweise nicht der Zeit hinterherhinkend, sondern wenigstens einen halben Schritt voraus –

Wie soll ich das alles in nur einem Leben unterbringen?

So müde.

Eins den Wäldern, den Gestirnen
Angelobt, dem großen Schweigen.

Ich bin über 40 – ein halbes Leben gelebt. Mit Glück jedenfalls – und deutlich mehr schon, wenn ich Pech habe. Steffen wurde nur unwesentlich älter, als ich es jetzt bin. Eine unbequeme Tatsache, üblicherweise sorgsam verdrängt. Doch sie boxt sich dieser Tage immer wieder an die Oberfläche. Sie macht nachdenklich. Sie macht traurig. Und an schlechten Tagen macht sie mich ängstlich.

So müde.

Nackt am Meer zu liegen eines,
Jetzt im weißen Schaum der Wellen,
Jetzt im Sand, im Dünengrase.

Ich muss priorisieren. An zu vielen Punkten Vernunft walten lassen – während das Herz doch ganz anders entscheiden wollen würde. Ich versage es mir, manche Projekte zu beginnen – wenn ich weiß, dass ich sie nicht zu Ende bringen könnte. Ich muss von dem, was das Leben zu bieten hat, eine Auswahl treffen. In dem Wissen, dass eine Entscheidung für etwas eben zugleich eine Entscheidung gegen so viel anderes ist.

So müde.

Eins für Mozart. Für die milden,
Für die wilden Spiele eines.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich je genug davon haben werde, die Sonne und den Mond und spielende Kinder und tanzendes Laub und Wellen zu beobachten. Ganz sicher werde ich es niemals überdrüssig, Meeresrauschen zu hören, klassische Musik, fröhliches Gelächter oder diese vollkommene und absolute Stille, wie sie nur in einem Lost Place herrscht.

Dieser Hunger nach dem, was da draußen ist.

Limitiert durch den Faktor „Zeit“.

Erdrückt durch Alltagspflichten.

Ausgebremst durch eine immer weiter währende Pandemie.

Und für alles Erdenherzeleid
Eines ganz. Und ich, ich habe –
Sieben Leben möcht’ ich haben! –
Hab ein einzig Leben nur.

Sieben Leben, Albrecht Goes (1908–2000)

Die „guten Erwachsenen“ da draußen wirken diesbezüglich im Reinen mit sich, irgendwie. Die scheinen das – im Gegensatz zu mir – im Griff zu haben. Und so versuche ich zwischen alledem, was ich muss, dem Leben auch das abzuringen, was ich will. „Du wurdest als Kind von einem Eichhörnchen gebissen, und nun hast du Eichhörnchen-Superkräfte“, sagt er liebevoll. Und ich verstehe nicht, wie er liebevoll bleiben kann angesichts meiner Rastlosigkeit, die zwischen völliger Verausgabung und trostloser Erschöpfung pendelt.

My candle burns at both ends;
It will not last the night;
But ah, my foes, and oh, my friends –
It gives a lovely light!

First Fig, Edna St. Vincent Millay (1892-1950)

Müde.

So müde.

So müde.

So müde.

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Hintergrundbild: Mahnmal St. Nikolai in Hamburg und mein neuer Lensball, 2022, 1500x 1000px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten

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