Jahresrückblick 2021
Die Pandemie hat mein gesamtes Zeitempfinden auf den Kopf gestellt. Im Grunde genommen kann ich überhaupt nicht fassen, dass ein weiteres Corona-Nebel-Jahr sich nun dem Ende neigt. Und es ist tröstlich für mich, dass viele meiner Leser das ähnlich empfinden.
- Das erste Quartal
- Das zweite Quartal
- Das dritte Quartal
- Das vierte Quartal
- Dazwischen, darüber, dahinter
- Gehört
- Gesehen
- Ausblick. Augenblick. Jetzt.
Das erste Quartal
Wo anfangen? Das erste Viertel des Jahres erscheint mir in der Rückschau als ein einziger qual- und sorgenvoller Sumpf – die Impfung in weiter Ferne, das Wetter trüb und kalt und keine Pläne für etwas Schönes in der Queue. Wohlmeinender Austausch war das einzige, das mich bei der Stange hielt – das Gefühl, ernst genommen, gesehen zu werden, auch mal Angst und Schwäche zeigen zu dürfen: liebe E-Mails, Direktnachrichten, Videokonferenzen, Briefe und Postkarten. Kommunikation ist alles, und im Endeffekt ist auch zweitrangig, auf welchem Wege sie stattfindet – so lange sie nur überhaupt stattfindet. Und ehrlich ist.
Im Februar reichte ich meinen Härtefall-Antrag in Sachen Impfung beim Saarländischen Gesundheitsministerium ein – es sollte 44 Tage dauern, bis ich Antwort darauf erhalten würde. Positive Antwort, in meinem Sinne – die Einstufung in Priorisierungsgruppe 2 erlaubte meine Erstimpfung Ende April und die zweite dann Anfang Juni. Und ich hatte viel Hoffnung darauf gesetzt: wenn nur erst der dunkle Winter vorbei wäre… wenn ich nur erst geimpft wäre… Wie enttäuscht ich war, als ich erkennen musste: ich fühlte mich kaum beruhigter, ich schlief nicht signifikant besser, und der (auch zu Bestzeiten eher spärlich vorhandene) Optimismus wollte nicht recht zurückkehren… Offenbar war die Impfung denn doch nicht mein einziges Problem.
Das zweite Quartal
Ich zimmerte mir selbst eine kleine Nische, indem ich mir im Mai Hubi-die-Honda und im Anschluss daran sehr großartige Schutzkleidung von Rukka anschaffte; knapp 5000 glückliche Kilometer (und einen Sturz) habe ich seither absolviert und mich jedes einzelne Mal für diese im Kern überflüssige Luxusentscheidung beglückwünscht. Hubi erhielt zeitnah einen neuen Kettensatz, fuhr am 1. Juli ohne Beanstandungen über den TÜV, und auch wenn im weiteren Verlauf dann eine recht kostspielige Reparatur (Zylinderkopfdichtung, entdeckt im Rahmen der 72.000km-Inspektion) notwendig wurde habe ich die Entscheidung keinen Moment lang bereut.
Ich brachte mir bei, gefütterte Kulturbeutel aus Oilskin zu nähen – die Anleitung von Bernina fand ich extrem hilfreich. Es brauchte dennoch zwei Probestücke und mehrere Anläufe, ehe ich ein verschenkbares Exemplar (aber eben auch jede Menge neuer Erkenntnisse) vorweisen und jemanden damit überaus glücklich machen konnte.
Hernach stand alles ganz im Zeichen meiner Vintage-Computing-Sammlungsauflösung: mehr als 50 Pakete packte ich möglichst bruchsicher, schleppte sie sukzessive zu diversen Packstationen, versendete Kabel, Adapter, Peripherie und teils auch Komplettsysteme. Einige wurden von ihren neuen Besitzern allerdings auch persönlich abgeholt, wunderbare pandemiekonforme Nachmittage mit guten Gesprächen, Kaffee und dem Versprechen „das wiederholen wir“ – ich nehm euch beim Wort, Leute! Und so wurde es mit jedem Stück etwas leichter, tat mir die Trennung ein bisschen weniger leid.
Ich etablierte die „Zu verschenken“-Kiste: einen entsprechend beschrifteten Pappkarton auf den Stufen vor der Haustür, gefüllt mit Dingen, die ich aussortiert hatte, die für andere aber noch von Nutzen sein könnten, rausgestellt an den beiden Tagen des Wochenmarkts (aber nur, wenn es nicht regnet). Eine Idee, die großen Zuspruch findet und sich zu meinem Entzücken nach und nach auch in der weiteren Nachbarschaft durchsetzt.
Spotify schlug mir plötzlich den Song „Leichtes Gepäck“ vor. Silbermond ist eigentlich so gar nicht meins und es passte auch nicht in die übrige Musik, aber thematisch fügte es sich dann doch erschreckend gut ein und ist seither Teil meiner Playlist.
Das dritte Quartal
Bei allgemein beruhigter Corona-Lage im August bereiste ich schließlich den Norden Deutschlands – nicht zum ersten Mal, aber das erste Mal so richtig. Ich fuhr mehr als 2500km in fünf Tagen, traf Freunde und Menschen, die (vielleicht, hoffentlich) welche werden könnten. Ich besuchte erstmals Steffens Grab, nachdem ich ihm im strömenden Regen auf einem der Uelzener Blumenfelder eine gigantische Sonnenblume ausgesucht hatte – stand mit Tropfen im Haar und Sand in den Aufschlägen meiner Hose und weinte um einen Freund, der nicht nur mir fehlt, sondern in seiner Besonderheit der ganzen Welt.
Das erste Mal überhaupt war ich an der Ostsee – was weniger überraschend klingt führt man sich vor Augen, dass niederländische, belgische oder nordfranzösische Küsten für mich deutlich kurzfristiger erreichbar sind als deutsche. Ich lag auf einem enorm großen und nahezu perfekt ovalen Stein, bei absurd gutem Wetter, dem Geruch von in der Sonne trocknendem Meeresgrünzeug und dem hypnotisierenden Geräusch der Wellen. Und aus heiterem Himmel war ich verliebt: zum ersten Mal seit Wochen, seit Monaten, fühlte ich etwas wie Frieden, wie Zuversicht, und nie wieder wollte ich weg von diesem so besonderen Ort, diesem sonnigen Stein. Und diesem Gefühl.
Doch das musste ich, und turbulent ging es weiter. So war beispielsweise die Einstellung meiner virtuellen Stammtisch-Runde #tabsvongesternnacht
keine einfache Entscheidung für mich, hatten die Videokonferenzfreitage doch einigen von uns ein Stück weit durch fast 18 Corona-Monate geholfen. Leider hatte die Sache über die Zeit eine Dynamik angenommen, die dem Wohlbefinden vieler nicht mehr zuträglich war, sich gleichzeitig aber auch nicht in sinnvolle Bahnen lenken ließ… Schade drum.
Ich fühlte mich ruhelos und nervös und furchtbar einsam und begann, endlose Spaziergänge in den Abendstunden zu unternehmen – wodurch ich meine nähere Umgebung extrem gut kennenlernte. Und sehr bald neue Schuhe sowie eine stärkere Taschenlampe (es wurde dann eine Olight Seeker 3) brauchte.
Das vierte Quartal
Eine große Sache im letzten Quartal des Jahres war der finale Umzug meines Blogs von WordPress weg und hin zu Jekyll: ein enormes Projekt, zeitaufwendig und nur unter Zuhilfenahme einer Menge schlampiger kleiner Scripte zu bewerkstelligen.
Ich widmete mich dem Nähen einer Bluse – Vorstellungsgespräch und nix Anzuziehen, ihr kennt das. Eben jener Termin führte mich im Oktober erneut nach Hamburg, und ich nutzte die Gelegenheit und blieb ein paar Tage und fühlte mich pudelwohl in dieser Gegend, die ich mit jedem Besuch etwas lieber mag. Mehr als fünfzig fußläufige Kilometer in der kurzen Zeit, Alsterumrundung und „Salty Caramel Macchiato“, Ostseestrand bei Sonne und Wind und lachende Menschen und hochgeschlagene Krägen und wehende Schals und im Sand hüpfende Hunde und bunte Drachen und tanzendes Laub und Farben – Farben so schön, dass sie mir das Herz brachen.
Erstmals seit langer Zeit habe ich nicht kiloweise Baumkuchen gebacken und Weihnachtspakete in die Welt versendet – was mich traurig stimmt, aber es war einfach nicht zu schaffen… Manchmal muss man auch das einsehen 😢
Das Jahr endete mit dem Weihnachtswunsch der Kinder – ihrer Erstimpfung im perfekt organisierten Impfzentrum in Trier. Meiner Kündigung, da dem Vorstellungsgespräch ein Arbeitsvertrag folgte. Meiner Drittimpfung. Dem niedlichsten Weihnachtsbäumchen aller Zeiten – was ich allerdings jedes Jahr behaupte. Und unfassbar viel Aufräum- und Umräumarbeiten in fast allen Räumen des Hauses.
Dazwischen, darüber, dahinter
Doch nicht alles, was bewegt, ist blogtauglich. Die relevantesten Dinge – die, die im Kern erschüttern, den Boden unter den Füßen herausziehen, die Welt kopfstehen lassen – sind jene, die hier und jetzt nicht hingehören. Tinte und Papier sind mir seit vielen Monaten lieb und teuer geworden – eine andere Art des Schreibens, des Auseinandersetzens, des Kommunizierens. Es ist nicht leicht, nichts ist leicht gerade, und ich war in meinem ganzen Leben nicht so erschöpft, wie ich es derzeit bin – so zwischen Extremen gefangen, verunsichert und blöde. Ich fühle mich alt und sehe erbärmlich aus; das Jahr hat mir viel abverlangt und ich mir selbst noch viel mehr. Die ausgeprägte Schlaflosigkeit wirkte nahezu persönlichkeitsverändernd, und umso mehr freue ich mich über euch, die ihr noch da seid, für mich da seid – auch und gerade jetzt.
Gehört
Spotify sagt, ich habe in 2021 gute 45.000 Minuten Musik gehört und damit mehr als 90% des restlichen Kundenstamms. Und Spotify macht es leicht, Unbekanntes kennen und lieben zu lernen – für mich waren das 2021 zum Beispiel diese hier:
- Conjure One, vor allem das Album „Holoscenic“
- Bodo Wartke, vor allem das Album „Was, wenn doch?“ – aber eigentlich ist fast alles von ihm klasse
- Jim Coppertwhaite, vor allem das Album „Ballroom Ghosts“ – und das nicht nur wegen des Lostplace-Covers!
- Rachel Grimes, vor allem das Album „Music for Egon Schiele“ – wobei ich Egon Schiele selbst aber gruselig und sein Werk ganz furchtbar finde
Gesehen
Die Pandemie bringt mich tatsächlich zum Serienschauen – es geschehen noch Zeichen und Wunder. Üblicherweise habe ich derweil an meinem „Temperaturtuch 2020“ gearbeitet, das zu meiner großen Entrüstung allerdings nicht fertig wurde… Na, da wird’s sicher irgendwann einen eigenen Artikel zu geben. Was mir auf Netflix so richtig gut gefallen hat:
- Das Damengambit, und ich möchte bitte unbedingt die Schnittmuster von den Kleidern!
- Broadchurch auf besondere Empfehlung, was meine Hingerissenheit in Sachen Ólafur Arnalds nur weiter anfachte
- The Crown – angeblich hält 2022 eine fünfte Staffel bereit, und auf die freue ich mich schon total!
Ausblick. Augenblick. Jetzt.
2022 wird alles besser. Das hab ich so beschlossen, und das geht auch nicht anders: das Waten im Sumpf muss einfach ein Ende haben. „Ein gewisses Maß an Dunkelheit ist nötig, um die Sterne zu sehen“ sagte einst Osho, und so sehr ich dieses Zitat mag – es ist an der Zeit für Sterne, dringend.
- Zum 1. März starte ich meinen neuen Job; zwar full remote, aber eben doch, so Corona es zulässt, mit Präsenzzeiten – in Hamburg, dieser Franzbrötchen-Hochburg und großartigen Stadt, in der ich so gerne bin und wo ich mich so wahnsinnig wohlfühle… Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue!
- Ebenfalls unbändig freue ich mich auf den Konzertbesuch im Großen Saal der Elbphilharmonie im Juli – und da ich erwartungsgemäß auch hierfür nichts Passendes Anzuziehen habe, werde ich mir leider, leider ein richtig
teurestolles Outfit schneidern müssen – ich bin untröstlich 😇 - Viele Arbeiten am und im Haus stehen noch an – nachdem aber das meiste schon einen signifikanten Fortschritt aufweist hoffe ich, dass unter vieles ein finaler Strich gezogen werden kann im Laufe des kommenden Jahres
- Wie einige von euch auf
Ex-Twittervielleicht schon mitbekommen haben richte ich mich gerade in meinem neuen Arbeitszimmer ein – die Schreibtischverkablung will ich 2022 dann ordentlich hinbekommen 😎
Und damit schließe ich jetzt diesen viel zu umfangreichen Jahresrückblick, der offenbar die zahllosen nicht veröffentlichten Artikel 2021 zu kompensieren versucht – erfolglos, leider, aber diesbezüglich gelobe ich Besserung. Weil es mir fehlt.
Wo auch immer ihr ins neue Jahr rutscht: rutscht gut, rutscht gesund, passt auf euch auf – und findet eure persönlichen Sterne!
Silvester 2006 · 2007 · 2008 · 2009 · 2010 · 2011 · 2013 · 2015 · 2016 · 2017 · 2018 · 2019 · 2020 · 2012 & 2014 hat es nicht einmal für einen Jahresrückblick gereicht. Aus Gründen.
Hintergrundbild: Weihnachtsbaum, typisch kuenstlerische Aufnahme, 2021, 1500x 1125px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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