Jahresrückblick 2023

Jahresrückblick 2023
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Auf dem Küchenschrank steht eine Uhr - klein, analog, mit Hygrometer. Nichts Teures oder Edles, die Batterieabdeckung fehlt. Ein Stück aus dem Fundus meines Väterchens. Aus der Zeit „unmittelbar nach der Diagnose“. Als er so dringend seinen Hobbykeller ausräumen wollte – und ich ihm dabei half, mit blutendem Herzen. Nur ein paar Monate ist das erst her.

Wie von den meisten Dingen, die ich über die Jahre von ihm bekommen habe, kann ich mich nun auch von der kleinen Uhr nicht trennen. Obwohl sie laut tickt, und lautes Ticken im Wohnraum ist mir ein Graus; den Küchenschrank nutzt sie sogar als Resonanzkörper, das macht es nicht besser. Aber es ist die „Rumpelküche“, hier stört mich das nicht.

An Papas Todestag hörte sie auf zu ticken. Ich kann nicht sagen, wann genau; ich betrat irgendwann im Laufe dieses schrecklichen, schrecklichen Tages den Raum, und die kleine Uhr tickte nicht mehr. Es bestürzte mich – so stark, dass es tatsächlich in mein Bewusstsein vordrang, während weite Teile dieser Tage weißer Nebel sind.
Er starb zur Zeit der Perseiden; das macht es mir leicht, ihn in jede Sternschnuppe hineinzuinterpretieren, die ich seither gesehen habe – und das waren viele, gemessen an den Jahren zuvor. Und genauso gern bilde ich mir ein, dass Papa auf irgendeine Art die Uhr beeinflusst, dass er sie steuert. Denn auch eine neue Batterie ändert nichts daran: seit jenem Tag im August geht sie mal, und mal geht sie nicht. Die kleine Uhr ist nicht kaputt. Sie entscheidet nur, zu beliebigen Zeitpunkten die Zeit unbestimmt lange anzuhalten.

Und das beschreibt mein ausklingendes 2023 vollumfänglich.

Die Zeit wurde für „unbestimmt lange“ angehalten.
Und in gewisser Weise steht sie nach wie vor still.
Dabei ist es längst nicht mehr „letzte Woche“.
Schnell war es auch nicht mehr „letzten Monat“.
Ein bisschen noch.
Einmal Kalender umhängen.
Einmal Geböller und Dreck ertragen.
Einmal mit einem Glas voller Irgendwas in die Dunkelheit starren –

Nur noch eine weitere schlaflose Nacht.
Und dann ist es „letztes Jahr“.

Das also war mein 2023: Überforderung und Fassungslosigkeit. Kontrollverlust und Hilflosigkeit. Unglaube und Verachtung. Enttäuschung und Wut. Schlaflosigkeit, Müdigkeit und Angst. Ständige Erreichbarkeit und Zeitdruck. Trauer. Herrje, dass man so trauern kann. Und Tränen. Oh Gott, so viele Tränen. Schmerzen. Dass etwas so unendlich weh tun kann. Und Einsamkeit. Wie unendlich allein man doch sein kann, allein mit alledem.

Ein Jahr zwischen Zitroneneis und Morphium, Kirschen und Chemotherapie, Zuckerwaffeln und Cannabis auf Rezept. Es gibt da so vieles, was man gar nicht wissen will, nie wissen wollte – aber ich weiß es jetzt. Es gibt Gespräche, die man nicht führen, Nachrichten, die man nicht schreiben, Fragen, die man nicht stellen, Gefühle, die man nicht spüren will – aber ich redete und schrieb und fragte und fühlte. Denn die Umstände interessierte es nicht, was ich will. Die Umstände erlaubten mir kein Einknicken, keine eigenen Grenzen, ich selbst erlaubte sie mir nicht. „Ich bin da“, das hatte ich ihm an diesem denkwürdigen Nachmittag unnötigerweise versprochen – unnötig, denn er wusste es auch so. Und ich war da.
Denn nur so funktioniert ein Versprechen.

Inzwischen ist – äußerlich – Ruhe eingetreten. „Schön, dich so fröhlich zu sehen“, sagen sie, und halten das Thema für erledigt. Es genügt ihnen, Fröhlichkeit in Momentaufnahmen hineininterpretieren. Die meisten interessiert es nicht weiter, die restlichen Minuten des Tages bekommen sie ohnehin nicht mit. Und schon gar nicht die der Nacht. Denn die Nacht ist jetzt anders dunkel als vorher. Die Stille ist jetzt anders still als vorher. Die Ruhe ist nur äußerlich.
Und die Kälte sitzt so entsetzlich tief.

Was soll ich schreiben, schreiben zu diesem Jahr? Eine detaillierte Rückschau würde keiner von uns ertragen: nicht ich, die sie schreiben würde, die dadurch erstarrte Situationen wieder in Bewegung setzte, gnädigerweise verschüttete Erinnerungen wieder hochholte; nicht ihr, die Leserinnen und Leser.

Das Jahr war schlimmer für mich, als… als alles. Ich muss viel Energie darauf verwenden, nicht zu verbittern, nicht mit den Menschen im Allgemeinen zu brechen – denn das Gesehene und Erlebte würde mir genügend Gründe dafür liefern. Ich sage mir selbst, dass die meisten Dinge auf dieser Welt außerhalb meines Einflussbereichs liegen, ich in die Köpfe anderer nicht hineinsehen kann und mich nicht für alles verantwortlich fühlen muss; ich sage mir selbst, dass ent-täuscht besser sei, als weiterhin ge-täuscht. Es liegt viel Arbeit vor mir.

Mein erster Impuls als Antwort auf die Frage, welche Hoffnungen ich in 2024 setze, lautete erst einmal „gar keine“. Aber – und zum Glück! – das stimmt so nun auch wieder nicht. Ich kann jedoch nur hoffen, dass ich die nötige Kraft finden werde, um an deren Umsetzung auch wirklich arbeiten zu können.

Nicht zuletzt für die Kinder will ich 2024 wieder einigermaßen auf die Beine kommen. Deshalb wünsche ich mir mit höchster Priorität ernsthafte – was vermutlich bedeutet: medizinische – Hilfe bei der Lösung meiner Schlafprobleme. Ich wünsche mir Ansprechpartner, die mich in dieser Sache ernst- und die Dringlichkeit meines Anliegens wahrnehmen. Denn wenn da nun nicht zeitnah (!) etwas passiert, drehe ich entweder durch oder falle um.
Man liest von übergewichtigen Menschen, deren gesundheitliche Probleme nicht ernst genommen werden; denen auf alles, was sie quält, als Allheilmittel eine Gewichtsabnahme – und sonst nichts – empfohlen wird. Aktuell stehe ich vor einem ähnlichen Berg, nur dass meiner nicht „Übergewicht“ heißt, sondern „Trauer“ - und der ist genauso wenig kurzfristig abzubauen oder zu überklettern.

Dass sich hier etwas zum Besseren wendet, ist also meine größte Hoffnung – denn davon hängt alles weitere, ich kann es nicht anders sagen, vollständig ab. Wieder die Kraft zu finden für die Dinge, die ich gerne mag; und um die dunklen Gedanken ein wenig mehr auf die hinteren Ränge zu verweisen. Wieder genug Energie zu haben, um mich für hinreichend menschenkompatibel zu halten; und den sozialen Rückzug zumindest nicht noch weiter einreißen zu lassen. Ich muss auch daran arbeiten, mich und meine Grenzen viel deutlicher zu schützen.

Wie gesagt: es liegt viel Arbeit vor mir. Und ich freue mich über alle, die bereit dazu sind, diesen Weg mit mir zu gehen.
Bis nächstes Jahr, ihr Lieben!
Rutscht gut, wo auch immer ihr rutscht! Küsst eure Liebsten, haltet sie fest – es kann sich alles so schnell ändern. Und wenn ihr anstoßt, trinkt einen Schluck auf mein Väterchen. Und vielleicht tickt die kleine Uhr dann mal wieder.

Denn im Moment steht sie.

Silvester 2006 · 2007 · 2008 · 2009 · 2010 · 2011 · 2013 · 2015 · 2016 · 2017 · 2018 · 2019 · 2020 · 2021 · In manchen Jahren hat es nicht einmal für einen Jahresrückblick gereicht. Aus Gründen.

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